Qualitativ-empirische Einzelfallstudie zum Erleben vom Wohnumfeld durch Kinder
an Hand von digitalen Fotografien
1. Zum Erleben vom Wohnumfeld durch Kinder
Das räumliche Umfeld von Kindern lässt sich in drei räumliche Situationen differenzieren: die Wohnsituation, der Nahraum, zu dem der eigene Garten, nahe am Haus/ der Wohnung liegender Spielplatz, die Straße vor dem Haus sowie Funktions- und Freiräume (Schule, Einkaufszentrum etc.).
In der Art, wie Kinder ihren Nahraum einnehmen, sind Unterschiede feststellbar. Während sich die Jüngeren noch den elterlichen Ratschlägen beugen und die empfohlenen Räume zum Spielen wahrnehmen, regeln die Älteren die Wahl der Orte zunehmend selbstständig. Als Spielräume werden nicht nur städteplanerisch vorgesehene Räume genutzt. Auch Gehsteige, verkehrsreduzierte Straßen und Wiesen werden von Kindern zum Spielen eingenommen. Im Alter von etwa zehn Jahren erkundet das Kind zunehmend von der elterlichen Wohnung entfernt liegende Stätten und nimmt sie als Aufenthaltsort und Spielgebiet ein.
Die topologisch unterschiedene Umwelt stellt den primären Handlungs- und Erfahrungsraum von Kindern dar. Betrachtet man das Wohnumfeld aus einer soziologischen Perspektive, wird der Raum zu einer Variable, die das menschliche – oder hier spezifisch das kindliche – Verhalten beeinflussen kann. Innerhalb dieser Handlungs- und Erfahrungsräume entwickeln Kinder ihre Haltung zu ihrer Umgebung. Diese Einstellung kann sich derart potenzieren und langfristig vergegenwärtigen, dass Alltagsräume Spuren in kindlicher Erinnerung hinterlassen können, die bis zur Genese von Zuhause oder gar Heimat führen können. Der eigene Lebensraum wird zu einer Komponente des kindlichen Selbstbildes. „Erfahrungsräume bilden in positiven Fällen Autonomie und Verfügbarkeit aus. In negativen Fällen speichern und kumulieren sie die Erfahrung der eigenen Ohnmacht. Explizit ist der Erfahrungsraum in den Urteilen, die Kinder über ihre Umgebung fällen, präsent. Implizit schwingt in jeder Aussage der Kinder eine subjektive Bedeutungszuweisung mit.“
Darauf basierend versucht diese kleine empirische Studie, von Kindern herausgegriffene Ausschnitte kindlichen räumlichen Umfeldes als Spiegel ihrer eigenen Interpretation des Selbst aufzugreifen. Abbildungen des Wohnumfeldes werden als Projektion ihrer Lebenswirklichkeit begriffen. Die Sicht der Kinder auf ihren primären Lebensraum lässt Rückschlüsse auf die Auslegung ihrer eigenen Lebenssituation zu.
2. Empirische Untersuchung
Im Rahmen einer qualitativ-empirischen Untersuchung der Einschätzung des Lebensumfelds von Kindern werden digitale Fotografien als Datenmaterial herangezogen. In einer fotografischen Expedition ins Wohnumfeld sollen Kinder mit Hilfe einer Digitalkamera Fotos machen, die typische Szenen ihres Viertels festhalten.
Fotos als Datenmaterial
Der Fortschritt der Methodologie qualitativ-empirischer Forschung hängt stark von Erkenntnissen aus den Sozial- und Erziehungswissenschaften ab. Oft steht dann aber aus verschiedenen Gründen der Text etwa in Form von Interviews oder Vortragstexten als Datenmaterial im Vordergrund. Da das Bild ein zentrales Medium in der Kunstpädagogik und der Medienpädagogik darstellt, arbeitet vor allen Dingen die dort verortete qualitativ-empirische Forschung mit der Analyse von Bildern. Fotos sind dabei eine Form des Bildmaterials. Dieses kann allerdings auch in Form vom Filmen, Malereien, Graffitis o.Ä. vorliegen.
Als Datenmaterial verwendete Fotos können in ihrer Herkunft unterschiedlich sein. Fotografien als Ergebnis ästhetischer Praxis von Kindern oder Jugendlichen werden als Werkbefund herangezogen. Fotos können auch als Datenmaterial aus einer teilnehmenden Beobachtung resultieren oder bildhaft Arbeitsergebnisse wie Kleinplastiken dokumentieren.
Vor allen Dingen die technische Entwicklung führt dazu, dass Bilder inzwischen ohne großen Aufwand als Datenmaterial herangezogen werden können. Werden Fotos mit der Digitalkamera generiert, kann dieses Bildmaterial leicht auf den Computer transferiert werden. Einfache Möglichkeiten der Vergrößerung und des abschließenden Einfügen in Präsentationen oder Publikationen ergänzen die Vorteile der digitalen Fotos.
Die „ästhetische Qualität des Wohnumfeldes“ ist eine wesentliche Variable in der Einschätzung des eigenen Wohnumfeldes. Der Architekturplaner Gerhart Laage fokussiert im Rahmen seiner Untersuchung zur Wohnwertverbesserung fünf Aspekte der ästhetischen Qualität des Wohnumfeldes: „formale Gestaltung, farbliche Gestaltung, Materialauswahl und Materialbehandlung, Grüngestaltung, Pflegezustand.“ Diese Variablen korrelieren miteinander, ihre gute Abstimmung aufeinander verspricht eine positive Einschätzung der Wohnumgebung. Sämtliche Faktoren sind durch das optische Erscheinungsbild des Wohnviertels bedingt.
Im Zuge dieser Untersuchung soll daher dieses typische visuelle Bild, das Kinder als charakteristisch für ihr Viertel ansehen, als Foto festgehalten werden. Die Fotografien sollen Rückschlüsse über die Einstellung der Kinder geben. Die Perspektive der Kinder, ihre Motivwahl und deren Entscheidung für spezifische Ausschnitte versprechen eine Art der Rekonstruktion von deren Wahrnehmung des Wohnumfelds.
Forschungspraktische Realisierung
Für die empirische Untersuchung werden sechs Kinder ausgesucht, die in einer Großstadt leben. Die Kinder sind im Alter zwischen 6 und 10 Jahren. Sie wohnen in einem Stadtviertel, das seit einiger Zeit im Zentrum städtebaulicher Verbesserungen steht. Das Stadtviertel ist Teil einer Initiative zur Verbesserung der Wohn- und Lebenssituation. Bei dem Projekt „Stadt- und Ortsteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt“ werden besondere Maßnahmen in solchen Stadtteilen ergriffen, die nicht dem städtebaulichen Standart entsprechen. Bereits seit den 1980er Jahren werden bauliche Maßnahmen ergriffen, um den alten Baubestand zu erneuern und bislang fehlende Freiflächen zu schaffen. Mit der städtebaulichen Verbesserung werden Schritte ergriffen, die auch die soziale Struktur des Viertels verbessern soll. Mit dem über mehrere Jahre angelegten Maßnahmenkatalog soll letztlich auch Selbstbewusstsein und die Identität der Bewohner mit dem Stadtteil gestärkt werden.
Es ist nicht nur im Kontext schulischen Unterrichts von Relevanz, wie das räumliche Lebensumfeld das Selbstbild der Kinder beeinflusst. Nicht zuletzt, da viel Geld und vor allen Dingen sehr viel Bemühungen und Engagement in die Verbesserung der Lebenssituation der Bewohner in dieses Stadtteil investiert worden sind, ist es von Interesse, wie die Kinder ihr Wohnviertel wahrnehmen.
Die Kinder erhalten den Arbeitsauftrag, mit Digitalkameras Szenen festzuhalten, die sie für typisch für ihr Stadtviertel halten. Es erfolgt keine weitere Vorgabe oder Formen der Manipulation. Es werden keine Impulse über die Bildinhalte gegeben oder mögliche Motive erarbeitet.
Um sicherzustellen, dass die Kinder mit der Aufgabe zurechtkommen, erfolgt im Vorfeld eine vorbereitende Sequenz. Vorangegangen sind Einheiten, in denen sich die Kinder mit ihren Hobbies, ihren Vorstellungen und Wünschen auseinander setzen. Diese werden in Bildern malerisch oder zeichnerisch dargestellt. Darüber hinaus kann mit verschiedenem Material wie Holz, Ton, Plastilin etc. gearbeitet werden.
Bei einem Gang durch das Wohnviertel bestimmen die Kinder nun den Weg und haben die Möglichkeit, Bilder mit Digitalkameras zu machen. Nachdem die Bilder gemacht sind, werden sie vom Versuchsleiter auf den Computer übertragen. Die Bilder werden nicht nachbearbeitet, sie werden als Ganzes als Datenmaterial herangezogen.
Das Analyseverfahren
Als Analyseverfahren wird, soweit dies bei diesen Fotografien möglich ist, die Interpretation der Bilder analog zum Drei-Stufen-Schema von Erwin Panofskys Ikonologie gewählt. Wesentlich ist bei Erwin Panofskys der Dreischritt der „vor-ikonografischen Beschreibung, der ikonologischen Analyse und der ikonologischen Interpretation. Relevant ist hier vor allem, zunächst alle Bestandteile des Bildes zu beschreiben. Somit wird der ohnehin in qualitativ-empirischen Forschungen unumgehbare Part der Transkription vollzogen.
Ergibt sich bei der Transkription von Interviews bereits auf Grund deren Chronologie eine selbstverständliche Transkriptionssequenz, muss bei der Bildbeschreibung eine Abfolge der Darstellung gefunden werden. Als Reihenfolge der Bildbeschreibung wird die subjektiv empfundene Blickbewegung festgehalten. Dazu werden die Bildbestandteile spontan kurz beschrieben. Dadurch soll die Blickbewegung nachvollzogen werden, mit der das Bild erfasst wird. Auf diese Weise erfolgt die Sequenzialisierung des Bildes. Nach dem von Thomas Loer beschriebenen Verfahren werden ikonische Pfade über das Bild gelegt. Bei den unten exemplarisch angeführten Bildern werden die ikonischen Pfade wie eine Führungsleine über die Fotos gelegt.
An Hand dieser Führungsleine werden die Bilder beschrieben und auf diese Weise in die Schriftform überführt. Nach Panofskys Dreischritt erfolgt als nächstes die ikonographische Analyse. Hier wird bereits vorhandenes Wissen um den Kontext der Bildgenerierung und der Bildmotive einbezogen. Anschließend erfolgt die ikonologische Analyse als Interpretation auf einer Metaebene unter Einbezug des Forschungsfokus.
In den unten angeführten exemplarischen Analysen von drei Fotos erfolgt der Schritt der ikonologischen Analyse für alle drei Bilder zusammen.
Exemplarische Analysen
Bild 1
Vor-ikonografische Beschreibung
Zunächst ist der Blick auf ein dunkelblaues Auto gerichtet. Es steht dem Fotografierenden mit seiner Front entgegen, die rechte Seite des Autos ist in starker Verkürzung erkennbar. Am rechten vorderen Kotflügel- und Lampenbereich ist das Auto eingedrückt, es fehlen kleinere Bauteile. An der rechten Kante weist das Auto eine sehr starke Verformung auf. Neben dem blau sind braune und weißliche Farbfelder erkennbar. In der Lampe ist keine Glühbirne. Die Lampenfassung ist mit diversen Klebestreifen fixiert. Neben der Lampe klafft ein Loch. Das Vorder- sowie das Hinterrad sind braun, es sind keine Radkappen vorhanden. An der vorderen Stoßstange ist ein Kennzeichen erkennbar. Am Kühler befindet sich ein ovales Feld. Die Kühlerhaube weist an der rechten Autoseite einen großen Spalt auf, an der der Frontscheibe zugewandten Seite steht sie leicht hoch.
Hinter dem blauen Fahrzeug steht ein größeres, rotfarbenes Auto. Es steht dem Fotografierenden mit dem Heck entgegen. In sehr starker Verkürzung ist die linke Seite des Fahrzeugs zu sehen. Auf dem Dach ist über die gesamte Breite ein Trägersystem montiert, das Heck hat zwei Flügeltüren, die geschlossen sind. Auf den Flügeltüren ist eine Schrift erkennbar: Installation, Sanitär, Heizung. Auch die Scheiben sind beschriftet.
Hinter dem roten Auto ist ein weiteres Fahrzeug erkennbar. Es steht mit der Front zum Fotografierenden. Links hinter diesem Fahrzeug ist ein Verkehrsschild an einer Lampe, die im Boden verankert ist, angebracht. An einem metallenen Pfahl ist im rechten Winkel ein wiederum im rechten Winkel gebogener Träger des Lampenschirms Das Schild weist stilisiert zwei Figuren, ein Haus, ein Auto und eine Kreisfläche weiß auf blauem Hintergrund auf. Ein roter Streifen führt diagonal, links unten beginnend, über das Schild.
Der Blick geht nach rechts und erfasst ein Schild, das dem Schild auf der linken Seite gleicht. Es ist an einen Pfahl montiert. Auf dem Bild führt ein Stahlgitter den Blick senkrecht nach unten. Das Gitter ist um einen dünnen Baumstamm herumgeführt und vergrößert seinen Umfang kurz bevor es auf den Boden aufsteht. Mit einem stählernen Ring steht das Gitter auf dem Boden. Um das Gitter herum ist ein Gitter aus Metall in den Boden eingelassen. Um den Baum und das Gitter herum liegen Steine, Zigarettenkippen und Papiere.
Als nächstes wird der Blick des Betrachters auf die linke Seite des Bildes geführt. Hier begrenzen zwei Häuserfronten, die in starker Verkürzung in steilem Winkel in die Tiefe führen, das Bild. Das Vordere Haus ist schmutzig, die Farbe blass, ein Riss im Putz ist erkennbar. Es hat geöffnete hölzerne Fensterladen, eine Lamelle ist gebrochen. An einer metallen glänzenden Aufhängung, die am Fensterrahmen montiert ist, ist der Fensterladen mit einem rostigen Metallstück montiert. Am unteren Ende des Fensterladens ist dieser mit einem metallenen Haken festgestellt. Der Haken hat die Form eines Kopfes. Am hinteren Fensterladen ist ein einfacher Haken montiert. Ein Teil des Fensterrahmens ist erkennbar. Er weist einen Abstand zum diesem umgebenden Mauerwerk auf. Der Fensterrahmen wirkt neu. Ein Abflussrohr der Regenrinne ist im unteren Bereich stark verrostet.
Das hintere Haus ist rosafarben, die Fenster sind weiß umrandet, an deren oberen Kante sind externe Rollläden angebracht.
Der Blick geht über einige Häuser und Bäume im Hintergrund zur rechten Bildseite. Hier ist ein Haus zu sehen. Die Rollladen sind heruntergelassen. Davor steht ein kleiner Baum, der von einem Metallgerüst umgeben ist. Zwischen den Häusern auf beiden Seiten ist der Platz gepflastert, vor den Häusern sind Wege über ein kleinteiliges Pflaster abgetrennt. Die Abtrennung ist leicht vertieft. Das Pflaster besteht aus quadratischen Steinen, die in heller und dunkler Tönung abwechseln.
Ikonographische Analyse
Im Bildmittelpunkt steht zunächst das blaue Auto, das auf einem Parkplatz an einer Spielstraße abgestellt ist. Auch wenn der Schriftzug am Kühlergrill fehlt, deutet die Form des „Platzhalters“ darauf hin, dass es sich um ein Auto der Marke Ford handelt. Der Wagen weist einen Unfallschaden auf, der nur behelfsmäßig mit Klebeband repariert ist. Die rostigen Stellen am Lackschaden deuten darauf hin, dass der Unfall bereits längere Zeit zurück liegt. Obwohl die Motorhaube verzogen ist und zudem das komplette Licht vorne rechts nicht mehr funktionstüchtig ist, weist das Kennzeichen darauf hin, dass das Auto dennoch im Alltag gebraucht wird.
Zusammen mit den fehlenden Radkappen und dem nicht vorhandenen Markenzeichen weist der Umgang mit den Folgen des Unfalls darauf hin, dass das Auto als Gebrauchsgegenstand verwendet wird, wenig oder kein Wert auf das Aussehen des Fahrzeugs gelegt wird.
Sowohl die Straßenbeleuchtung als auch die Ummantelung der Bäume und das gemusterte Verlegen des Straßenpflasters weisen auf eine bewusste Gestaltung des öffentlichen Raumes hin. Diese ist z.B. beim rostigen Gitter, das um die Bäume in den Boden eingelassen ist, nicht durchgängig gelungen. Müll liegt herum.
Das rosafarbene Haus im linken Bildteil scheint gepflegt, die extern angebrachten Rollladenkästen deuten auf eine Renovierung des Hauses hin. Damit steht es im Gegensatz zum im Vordergrund erkennbaren Haus. Dieses ist seit langem nicht gestrichen, weist starke Verschmutzungen und einen Riss auf. Lediglich die Fenster sind neu eingesetzt.
Tatsächlich ist der Stadtteil, in dem die Kinder aufwachsen, ein lange Zeit von der Stadt vernachlässigtes Viertel. Nach einer Bestandsaufnahme durch die Stadt kam das Viertel in ein Bundesförderprogramm, das städtebauliche Maßnahmen ermöglichen soll. Allerdings sind erst wenige Projekte vollständig realisiert.
Bild 2
Vor-ikonografische Beschreibung
Auf dem Bild ist zentral eine Bank zu sehen. Die dunkelfarbene Sitzfläche geht über die gesamte Breite des Bildes, sie ist an der rechten Seite ein wenig angeschnitten, an der linken Seite deutlich. Als Sitzfläche dienen zwei Holzplanken. Diese sind leicht mit Moos bewachsen und weisen an der Vorderkante deutliche Abriebspuren auf. Zudem sind kleine Kerben zu erkennen. Auch sind über die gesamte Vorderkante helle Absplitterungen verteilt. Eine Lackierung ist nicht feststellbar. Von der Sitzfläche geht der Blick über auf einen metallenen Steg, der im rechten Winkel nach oben von der Sitzfläche absteht. Das untere Stück ist graufarben, das zweite Drittel ist in dunkelgrau und braunrot gefärbt. Zwei Löcher sind nahe der Mitte angebracht. Am oberen Drittel sind eine gleichfarbene Färbung sowie Löcher gleicher Art zu sehen. Zwischen den oberen beiden Dritteln ist ein schmaler graufarbener Streifen.
Hinter diesem metallenen Steg sind zwei Paar dunkelbraunfarbene Gleise erkennbar. Sie verlaufen parallel zur Sitzfläche. Auch die Oberseite der Gleise weist einen dunklen Farbton auf. Zwischen den beiden Gleisen liegt braunes Laub, das die Gleiszwischenräume in Teilen verdeckt. Die Gleise gehen über die beiden Bildränder rechts und links hinaus.
Nun geht der Blick auf den metallenen Steg über, der senkrecht hinter der beschriebenen Sitzfläche weggeht. Der rechte Steg ist im Wesentlichen identisch mit dem linken Steg. Beide Stege stoßen im Bild genau an das untere Gleis, das hinter der Sitzbank verläuft. Zwischen der Bank und den Gleisen liegt viel braunes Laub.
Unter der Sitzfläche sind auf beiden Seiten unterhalb der metallenen Stege die Stützen der Bank erkennbar. In starker perspektivischer Verkürzung sind die „Innenseiten“ der Stützen sichtbar. Im hinteren Bereich der Innenseite sind die Stützen mit Moos befallen. Am Boden unterhalb der Bank ist eine Vertiefung im Erdreich. Während der Boden hinter der Bank mit ein wenig Gras bewachsen ist, ist vorne Erde erkennbar. Unter der Bank sind zwei Zigarettenkippen zu sehen. Vor der Bank liegen mehrere Zigarettenkippen.
Den unteren Bildrand markiert ein schmales Pflaster, das aus einer Reihe großer quaderförmiger Steine besteht. Ein schmaler Streifen Asphalt schließt das Bild unten ab. Zahlreiche kleine Steinchen und Stöckchen liegen über den Asphalt, das Pflaster und die Erde vor der Bank verstreut.
Ikonographische Analyse
Zentrales Motiv der Fotografie ist eine Bank, deren Rückenlehne abmontiert ist. Die hölzerne Sitzfläche ist leicht mit Moos bewachsen, was auf einen stark reduzierten Gebrauch hinweist. Beides, die abmontierte Rückenlehne und der Mossbewuchs, deuten auf eine Vernachlässigung dieses Stadtmöbels durch die Zuständigen. Die Abriebspuren an der Vorderkante der Sitzfläche und die weggeworfenen Zigarettenkippen zeigen, dass der Ort trotz Defektes der Bank zum Aufenthalt genutzt wird. Wahrscheinlich werden die Füße an der Kante der Sitzfläche aufgesetzt. Positioniert ist die Bank am Rand eines Weges im Stadtgebiet. Hinter ihr verlaufen zwei Schienen, die wohl nicht mehr genutzt werden. (Die verrostete Lauffläche weist darauf hin.)
Bild 3
Vor-ikonografische Beschreibung
Der Blick fällt zunächst auf einen quaderförmigen, orangefarbenen Kaugummiautomat. Die Oberfläche des Automaten ist verkratzt, sie weist zahlreiche Schlagspuren auf. Im Apparat ist auf dessen linken Seite ein Behälter zu sehen, der mit verschiedenfarbenen kugelrunden Kaugummis gefüllt ist. Der Behälter, der vom orangefarbenen Metall des Automaten in Teilen verdeckt wird, hat eine Aufschrift. Auf dieser steht „Frucht-Kaugummi“, „Profi-Gum-Kaugummi“. Eine kleine Comiczeichnung ergänzt die Aufschrift. Darunter ist die Zahl „20“ zu lesen. Neben dieser Zahl ist ein Aufkleber zu sehen. Über den Münzeinwurf und den Drehmechanismus des Automaten links ist ein weißer Klecks zu sehen, von dem aus zwei Nasen nach unten laufen. Auf der Klappe der Kaugummiausgabe setzen sich die beiden Farbflecke fort.
Der Blick wandert in die Mitte des Kaugummiautomaten und hält inne an einem Schloss, welches in Teilen verrostet ist. Auf der rechten Seite des Kaugummiautomaten befindet sich ein zweiter Behälter. In diesem sind silberfarbene Kugeln erkennbar. Die Aufschrift auf dem Behälter lautet „Frucht-Kaugummi“, „Nintendo“, „Profi-Gum-Kaugummi“. An der rechten oberen Seite hat der Behälter mit den Kaugummis ein fast halbkreisförmiges Loch, von dem aus sich ein Sprung durch den Behälter zieht. Über dem Behälter weist der orangefarbene Kasten großflächig Schmauchspuren auf. Unter der Abdeckung des Automaten ist ein rechteckiges graues Feld erkennbar. Daneben ist das Wort „Hurre“ mit einem nach links weisendem Pfeil in einzelnen Buchstaben geschrieben. Auf dem Kaugummiautomat liegt eine zusammengeknüllte Papiertüte.
Der Kaugummiautomat ist an einem kleinen Stück Mauer aufgehängt. Diese ist zweifarben gestrichen in den Farben violett und grau, der Automat hängt vor der violetten Seite. Auf der violetten Seite der Mauer ist der Putz in Teilen abgebröckelt. Verschiedene Striche sind auf dem grauen Maueruntergrund zu sehen.
An der linken Seite der Mauer ist ein graufarbenes Metalltor angebracht, von dem eine Angel erkennbar ist. Im oberen Bereich ist ein Teil einer Schrift erkennbar, die auf das Tor geschrieben wurde. Im Hof, der im Hintergrund zu erkennen ist, stehen zwei dunkelgraufarbene Mülltonnen auf einem gepflasterten Boden. Die Mauer eines Gebäudes ist erkennbar. Sie ist lachsfarben gestrichen.
Als nächstes geht der Blick hinüber zur rechten Seite des Bildes. Rechts vom Kaugummiautomaten ist ein schwarzfarbenes Gitter zu erkennen. Dieses ist an seiner Unterseite gerade, an der Oberseite ist es leicht nach oben geschwungen. Die Streben laufen abwechselnd gerade und geschlängelte nach oben aus. Das Ende ist zugespitzt. Teile der Vierkant-Streben sind in Abschnitten gedreht. Hinter dem Gitter ist eine Baum- oder Buschart erkennbar, die vor einer violettfarben gestrichenen Gebäudewand steht. Im bodennahen Bereich ist die Wand dunkel abgesetzt. Erde, Blätter, Geäst und diverse kleine Gegenstände, von denen eine Milchtüte erkennbar ist, bedecken den Boden vor dem Gebäude. Im Hintergrund ist ein Fahrrad erkennbar.
Am unteren Ende des schwarzen Gitters ist dieses leicht mit Moos bewachsen. Es hängt leicht über einer kleinen Mauer. Diese ist in Teilen mit Moos bewachsen, ein violetter Anstrich ist nur in Teilen vorhanden. Vielfach ist der Untergrund erkennbar.
Ikonographische Analyse
Zentrales Motiv dieser Fotografie ist ein Kaugummiautomat. Dieser weist zahlreiche Spuren der Beschädigung auf. Die Schäden reichen vom Aufbrechen des Kunststoffbehälters über Schmauchspuren, Farbspritzer bis hin zu zahlreichen Kratzern am Metallgehäuse und am Automatenschloss. Die Notiz „Hurre“, die mit einem Filzschreiber aufgebracht scheint, stellt wohl eine beleidigende Zuschreibung einer links des Automaten wohnenden Person dar. Indem der Kaugummiautomat als Ablage für eine Papiertüte verwendet wird, wird das Bild eine ungepflegten vervollständigt. Der Kaugummiautomat ist als Hauptmotiv des Bildes in einem eher verwahrlosten Zustand.
Der sichtbare Mauerteil und die dazugehörenden Gitter zu beiden Seiten sehen auf den ersten Blick renoviert aus. Die Farbe wirkt die Mauer eher frisch aufgetragen. Auf den zweiten Blick werden jedoch abbröckelnder Putz sowie abblätternde Farbe sichtbar.
Im Hintergrund sichtbare Gegenstände (z.B. eine Milchtüte), die im Areal seitlich des rechten Hauses liegen, unterstützen den Eindruck einer in Teilen eher ungepflegten Situation. Dies steht hier im Gegensatz zu den beiden soweit erkennbar sauber (lachsfarben bzw. violett) gestrichenen Hausfassaden. Diese Situation weist einige Gegensätze auf. Scheinbar instandgesetzte Mauern und Fassaden stehen verwahrlosten, ungepflegten Bildelementen gegenüber.
Zusammenfassende ikonologische Analyse der drei Fotos
Insgesamt weist das erste Foto zahlreiche Gegensätze im fotografierten räumlichen Umfeld auf. Neben altem, renovierungsbedürftigem Bestand sind bereits zahlreiche Hinweise auf bewusste Neugestaltung und Renovierung erkennbar. Im Mittelpunkt des Bildes steht das blaue Fahrzeug. Es kann als bewusst ausgewähltes Motiv bezeichnet werden. Sein ramponierter Zustand, die relative Verwahrlosung weist darauf hin, dass für das Kind das Alte, das Kaputte im Vordergrund steht.
Diese Fotografie spiegelt genau die Situation in diesem Stadtviertel wider: Zahlreicher veralteter Baubestand wird zunehmend renoviert. Im Kopf der Bevölkerung bleibt allerdings die Identifikation mit einem Viertel, das sie selbst als tendenziell verwahrlost wahrnimmt.
Im Bild 2 ist das Übriggebliebene einer Sitzbank zentrales Motiv. Doch eigentlich steht nicht die Bank im Mittelpunkt des Bildes, sondern vielmehr das Defekte. Es fungiert als Sinnbild für eine Vernachlässigung des Stadtteils, in das fotografierende Kind aufwächst.
Zentrales Motiv des dritten Bildes ist ein verwahrloster Gegenstand, der eigentlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Kind steht. Der Kaugummiautomat ist das dominante Motiv im Bild. Damit rückt das Moment der Zerstörung und Verwüstung in den Mittelpunkt des Bildes. Geprägt ist der Charakter des Bildes vor allem vom Gegensatz gepflegter Bildelemente und ungepflegter, verwahrloster Komponenten.
3. Resümee
Mit der Entscheidung für die digitale Fotografie als Instrument zur Datenaufzeichnung ist die Frage verbunden, ob die Digitalkamera ein geeignetes Medium für Kinder im Grundschulalter darstellt. Gerade die Einfachheit in der Bedienung der Fotokamera ermöglicht das spontane Festhalten von für Kinder relevanten Bildmotiven.
Mit Hilfe der digitalen Fotografie konnten die Kinder unmittelbar Momente, in denen sie das Spezifische ihres Stadtviertels entdeckten, festhalten. Sie stellen als zentrales Charakteristikum ihres Stadtviertels das Kaputte und Verwahrloste in den Mittelpunkt ihrer Fotografien. Renovierungsmaßnahmen, die im Wohnviertel bereits vollzogen sind, sind in den Fotografien erkennbar, rücken aber zumeist in den Hintergrund. Sie sind lediglich berücksichtigt, indem das Renovierte dem Ramponierten als Gegensatz dient und dieses damit betont.
Generell beurteilen Kinder im städtischen Umfeld ihre Wohnumgebung negativer als Kinder, die auf dem Land leben. Ausschlag gebend für diese Differenz ist die positive Einschätzung der Kinder auf dem Land. Die Nähe zur Natur sowie der damit verbundene reduzierte Autoverkehr führen zu einer bejahenden Beurteilung der Umgebung. Grundsätzlich war daher folglich davon auszugehen, dass die fotografische Dokumentation der Wohnumgebung der Kinder nicht ausschließlich positive Aspekte fokussiert. Dennoch muss bei der gesamten Studie und der umfassenden Analyse aller Fotos eine sehr starke Tendenz zu einer negativen Sichtweise attestiert werden. Einer derart negativen Bedeutungszuweisung muss begegnet werden, um einer Steigerung ins Ohnmächtige zu begegnen.
Konsequenz
Ästhetische Bildung im Allgemeinen und Kunstunterricht im Speziellen ringt immer wieder auch um die Bedeutsamkeit der Formen ästhetischer Praxis für die kindliche Identität. Produkte ästhetischer Praxis können Aufschluss über die Selbstsicht des Kindes geben.
Möchte Kunstunterricht Einfluss auf identitätswirksame Faktoren nehmen, Perspektiven des kindlichen Selbstbilds aufgreifen und für Unterricht fruchtbar machen, müssen Wege beschritten werden, die dem Kind zu einem positiven Selbstbild verhelfen. Schule spielt eine wesentliche Rolle dabei, den Blick auch für positive Konstellationen zu öffnen, um die Genese einer positiven Einschätzung des Umfelds sowie der eigenen Lebenssituation durch das Kind zu provozieren.
- Literatur
Baier, R./ Poth, R.: Wirkungsanalyse von Maßnahmen zur Wohnumfeldverbesserung im öffentlichen Raum. Aachen 1983 - Dietl, M.-L.:Kindermalerei, Münster u.a. 2004
- Ehrenspeck, Y./ Schäffer, B. (Hrsg.): Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Opladen 2003
- Heine, B.: Raumerleben sechs- bis zehnjähriger Kinder in zwei verschiedenen Wohngebieten – Eine Analyse von Kinderzeichnungen. Göttingen 1990
- Flade, A./ Kustor, B.: Sozialisation und Raumaneignung – die räumliche Dimension als Einflussfaktor geschlechtstypischer Sozialisation. Darmstadt 1996
- Kerstiens-Koeberle, E.: Freizeitverhalten im Wohnungsumfeld. Regensburg 1979
- Kirchner, C./ Schiefer Ferrari/ Spinner K.H.: Ästhetische Bildung und Identität. München 2006
- Kirchner, C.:Kunstunterricht in der Grundschule. Berlin 2007
- Laage, G.: Wohnen beginnt auf der Straße. Stuttgart 1977
- Panofsky, E.: Sinn und Deutung der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts). Köln 1975
- Peez, G.: Fotografien in pädagogischen Fallstudien, sieben qualitativ-empirische Analyseverfahren zur ästhetischen Bildung. München 2006
- Pilarczyk, U./ Mietzner, U.: Methoden der Fotografieanalyse. In: Ehrenspeck, Y/ Schäffer, B. (Hrsg.): Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Opladen 2003
- Postman, N.: Das Verschwinden der Kindheit. Franfurt/M. 1984
- Rainer, R.:Lebensgerechte Außenräume. Zürich 1972
- Rauschenbach, B., Wehland, G.: Zum Erfahrungsraum von Kindern in unterschiedlichen Wohngebieten. Heidelberg 1989
- Reinfuss, N. u. A.:Städtebauförderung in Schwaben, Soziale Stadt Augsburg“, Augsburg 2004
Bibliografische Angaben
Reuter, Oliver M.: Einzelfallstudie zum Erleben vom Wohnumfeld durch Kinder an Hand von digitalen Fotografien. Augsburg 2009